Nie mehr wieder – Vergessen wir dabei die europäischen Außengrenzen – Grenzgewalt?

Überall hören wir „Nie mehr wieder“ in diesen Tagen, speziell am 8. Mai. Und das ist gut so.

Anna Hackl, aus dem oberen Mühlviertel, deren Familie während der grausamen Menschenjagd, unter dem schrecklichen Namen „Mühlviertler Hasenjagd“ bekannt, russische Soldaten bei sich versteckte, erntete am „Fest der Freude“ in Wien großen Applaus. Es tut gut, Widerstandskämpfer:innen, Held:innen, so beeindruckend vor sich zu sehen und hören. Auch mir, die ich auf Lesbos die Übertragung verfolgte.

Erschreckend war für mich persönlich, dass mir zeitgleich all diese aktuellen Geschichten von 2016 – 2023 in den Sinn kamen:

Menschen, die Menschen suchen, damit sie an den Außengrenzen nicht verschleppt, nicht gekidnappt, nicht beraubt werden. Menschen, die Menschen in Österreich erst kürzlich versteckt haben, um sie vor einer Deportation in das Hochrisikogebiet Afghanistan zu bewahren, bevor das Höchstgericht die letzte Entscheidung getroffen hat. Menschen, die Menschen in Foltergefängnissen finden, wohin sie von Behörden gebracht wurden, weil sie in Europa Schutz suchten und Menschen, die Menschen im Geheimen gesund pflegen, weil sie bei ihrem Grenzübertritt nach Europa so massiv misshandelt wurden, dass sie alleine nicht mehr weiterkonnten.

Wie ernst meinen wir dieses „Nie mehr wieder“ in der Realität? Sind wir bereit für mehr, als diesen Satz nur freudig zu rezitieren, oder ihn zu stammeln?

Beschäftigen wir uns näher mit der Vorgeschichte des Grauens des Holocausts, wie alles begann. Ganz bewusst und ohne jeden Skrupel wurden Menschen abgewertet, verleumdet, als Schmarotzer, Diebe, Gesindel und vieles mehr bezeichnet. Permanent schürte man Angst. Man entmenschlichte, ganz bewusst. Man entrechtete die Jüd:innen, dies war ein wesentlicher Bestandteil der dramatischen und unverzeihlichen Entwicklung. Wir wissen auch, dass die wenigsten Beobachter:innen am Beginn dieser Strategie, dieser unfassbaren Grausamkeiten befürchteten, dass diese Entrechtung, die Entmenschlichung in einem Massenmord enden würde. Und doch geschah es.

Wie ist das heute – im Jetzt, 2023?

Während die letzten Tage ein Großteil der politisch Verantwortlichen ein ganz Europa, so auch unsere Bundesregierung unter Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler, an Gedenkveranstaltungen teilnehmen, „Nie mehr wieder“ sagen, große Worte gegen Rassismus und Faschismus führen und Zivilcourage loben, ja beinahe fordern, werden zeitgleich und dessen sollten wir uns täglich bewusst sein, an den Europäischen Außengrenzen Menschen auf der Flucht massiv entrechtet, gedemütigt, gekidnappt, beraubt, gefoltert und dann über die Außengrenzen aus Europa hinausgetreten, geschleppt werden.

Hier in Griechenland lässt man sie am offenen Meer zurück, Frauen, Kinder, Männer, man trennt willkürlich Familien, Kinder bleiben hier auf Lesbos, während ihre Mutter in die Türkei zurück gezwungen wird. Man kümmert sich weder um ihre seelischen, noch körperlichen Wunden und Verletzungen, die ihnen vorher von vermummten Polizeibeamten zugefügt wurden. Niemand kümmert sich darum, wo all die Wertgegenstände, die Beamte der Hellenic Coast Guard und der griechischen Polizei den Geflüchteten gestohlen haben, verbleiben. Niemand kümmert sich, aber wir sagen „Nie mehr wieder“ – es wirkt scheinbar so zivilisiert.

Niemand kümmert sich konsequent darum, dass sofortige politische und juristische Konsequenzen folgen, wenn Menschen in Flüchtlingscamps in Griechenland wochenlang, weil die Behörde so lange zur Registrierung braucht, nicht in die Essensausgabe/Foodline im Camp gehen können. Andere Geflüchtete, die selbst am Minimum leben, teilen das Wenige mit ihnen. Wen kümmert es – niemand.

Niemand kümmert es, wenn Geflüchteten das Recht auf ein zügiges, faires, dem europäischen und internationalen Recht entsprechenden Verfahren, verweigert wird. Man spricht laut über „robusten Außengrenzschutz“, über „Asylbremse“, „Auslagerung von Asylverfahren“ – bis der Anspruch auf Recht verstummt. Das scheint die gängige Lösung zu sein, um das Elend und die massiven Verbrechen zu legalisieren und in weiterer Konsequenz auszulagern, nicht mehr auf europäischem Boden stattfinden zu lassen.

Während all dem sagen beinahe alle „NIE MEHR WIEDER“.

Wie ist das jetzt gemeint? Nie mehr wieder Massenmord, oder nie mehr wieder Handlungen, die in letzter Konsequenz dazu führen könnten? Oder doch von der Vorstufe so viel wie möglich, ohne Massenmord. Es fällt mir schwer dies zu verstehen.

Seit beinahe 3 Jahren arbeiten wir jetzt hier auf Lesbos. Wir sehen das Elend, die Verbrechen, wir verfolgen Prozesse, bei denen man Menschen vor Gericht bringt, kriminalisiert werden, weil sie Menschen auf der Flucht in deren Elend helfen, während in Österreich und in vielen anderen Ländern Europas die Politiker:innen uns zu Zivilcourage motivieren? Warum kommt keine Unterstützung von ihnen für uns, all die Akteur:innen an den Grenzen, an den europäischen Hotspots der Grausamkeiten? Warum handeln Politiker:innen nicht so, dass wir diesbezüglich keine Zivilcourage brauchen? Wie beängstigend verlogen.

Wir werden nicht ruhen, bis die massiven Verbrechen an Menschen, die hier auf den ägäischen Inseln und am griechischen Festland täglich passieren, nachgewiesen sind und alle politisch Verantwortlichen, die diese Verbrechen dirigieren, verantworten und ihre Handlanger, die Beamt:innen, zur Verantwortung gezogen werden.

Denn wie heißt es? Wehret den Anfängen.

Ich muss Sie, geschätzte Leser:innen, Unterstützer:innen leider enttäuschen. Über die Anfänge sind wir bei weitem hinaus.

Grüße von Lesbos,

Doro und Team

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