Wenn ich in so einer stürmischen und kühlen Nacht wie gestern auf meinem Balkon stehe und sowohl den Hafen, als auch das Meer, Richtung Mavrovouni Camp sehe, dann wird mir angst und bang.
Aus vielen Gründen.
Ich denke an die Geflüchteten, die heute Nacht versuchen, von der Türkei aus, über die stürmische Ägäis die Insel Lesbos zu erreichen.
Familien aus Afghanistan, mit ihren Kindern, die unter größter Anstrengung versuchen, den türkischen Abschiebungen in ihre, vom Terrorregime der Taliban unterjochten Heimat, zu entfliehen.
Ich denke an die Palästinenser:innen, die in der Türkei festsitzen und beim besten Willen nicht nach Palästina zurückkehren können.
An Menschen aus dem Jemen, aus Eritrea und Somalia, die aus Bürgerkrieg, Hochrisikogebieten und wegen dem Klimawandel fliehen mussten.
Sie alle haben etwas gemeinsam – sie sind in ihrer Verzweiflung wegen der grausamen Lebensumstände in ihrer Heimat geflohen um sich ein selbständiges Leben, in Sicherheit und Frieden aufzubauen.
Sie mussten alles was ihnen vertraut, lieb und heilig war verlassen, von einigen ihrer Liebsten Abschied nehmen, mit dem inneren Wissen sie nie mehr wieder zu sehen.
Sie alle sind aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft und beinahe alle von ihnen haben auf ihrer Flucht Misshandlungen, Missbrauch und massive Gewalt erlebt.
Viele haben diesen notwendigen Schritt mit ihrem Leben bezahlt.
Und sie haben noch etwas gemeinsam:
Sie alle erleben illegale, verbrecherische Zurückweisungen an der europäischen Grenze – Pushbacks.
Sie werden aufs Schlimmste verängstigt, misshandelt, gegen internationales Recht behandelt. Hier, zwischen der Türkei und den griechischen Inseln, mitten am offenen Meer werden ihren kleinen und gefährlichen Booten die Motoren, von Beamten der Hellenic Coast Guard abgenommen. Entweder lässt man sie dann auf der stürmischen See treiben, oder aber man packt sie auf eine „Rettungsinsel“, die nichts besseres als ein primitives Schlauchboot ist und lässt sie mutterseelenallein am Meer – bis die zuvor verständigte Türkische Küstenwache sie irgendwo abholt.
Dies kann Stunden dauern, viele Beobachter:innen sind überzeugt davon, dass dabei Menschen bereits ihr Leben verloren haben – wo kein Kläger da kein Richter – das Meer und die ausführenden Beamten schweigen.
Die meisten der Geflüchteten können nicht schwimmen. Der peitschende Wind treibt das Boot wie wild hin und her, die Kinder und Erwachsenen weinen, schreien oft laut, in Todesangst, erleben unvorstellbare Stunden.
Dies sind schreckliche Erlebnisse, die immer zu Traumata führen und den Menschen ewig in Erinnerung bleiben.
Wie tief wir doch gesunken sind – in der bigotten Verklärung und Verteidigung der „christlichen“ Werte.
Dies sind jene grausamen und verbrecherischen Handlungen, mit denen wir Europa und seine „Werte“ verteidigen.
Es sind gesetzwidrige, kriminelle Handlungen, die jeder menschlichen Grundlage und Würde entbehren.
Doch all dies wird vergessen, wenn Politik gegen Geflüchtete hetzt, uns eintrichtern will, dass jene „Fremden“ nicht zu uns passen.
Menschen wie Du und ich werden entmenschlicht, entwürdigt, entfremdet, damit wir vergessen was wir ihnen bereits angetan haben, bevor sie in Europa ihr erstes Wort gesprochen haben.
EU Politiker:innen im Wahlkampf, die einen, die dies halbherzig ansprechen, versuchen uns einzulullen, sie würden dies ändern, wenn wir ihnen ihre Stimme geben – was sie aber auch all die letzten Jahre im Europäischen Parlament nicht zu Stande gebracht haben.
Die anderen, die permanent noch „robusteren“ Außengrenzschutz fordern – robust klingt beinahe nach Sicherheit – ein robustes, stabiles Gerüst – man lenkt geschickt davon ab, dass noch robuster die bereits existierenden psychischen Misshandlungen, Folter, Gesetzesbrüche, die Verbrechen, nur noch ausweitet.
Vor ca 1. Jahr hat Fayad Mulla gemeinsam mit der New York Times diese Verbrechen seitens europäischen Behörden, bewilligt von der Europäischen Kommission, dokumentiert und festgehalten. Hier auf Lesbos – dieser Insel des Elends.
New York Times Bericht: https://www.nytimes.com/2023/05/19/world/europe/greece-migrants-abandoned.html
Die Europäische Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen konnte nicht anders, die weltweite mediale Aufmerksamkeit war zu groß, forderte eine Untersuchung.
Der griechische Premierminister Mitsotakis hat diese angeblich auch sofort eingeleitet.
Bis heute gibt es keine Ergebnisse.
Wie auch:
Die Hellenic Coast Guard steht unter der Verantwortung des griechischen Premierminister – es kann nicht sein, dass sie all diese Verbrechen begangen hat, ohne dass ihre Vorgesetzten nichts davon gewusst haben.
Darum unsere Frage:
Wer genau führt diese Untersuchungen, die angeblich von Premierminister Mitsotakis in die Wege geleitet wurden?
Wie weit sind sie fortgeschritten?
Und warum gibt es immer noch Pushbacks in der Ägäis?
Was sagt FRONTEX dazu – was deren Grundrechte-Beauftragten?
Gibt es auch dort niemanden der Garant für Recht ist?
Was sagt die Europäische Kommission dazu?
Warum schließt man die Augen und lässt eklatante Gesetzesbrüche zu?
Warum gehen die Pushbacks weiter mit dem Wissen der Europäischen Kommission, allen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, den europäischen Justizminister:innen, welche die Gesetze und das Recht wahren sollten und den Regierungen der jeweiligen Mitgliedstaaten?
Gibt es in ganz Europa niemanden mehr, dem Menschenrecht, Völkerrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention so viel bedeutet, dass er/sie den Mut findet sich gegen diese Verbrechen aufzulehnen?
Gibt es in ganz Europa niemanden mehr, der wie bei Verbrechen üblich, die Verbrecher:innen vor Gericht bringen möchte?
Wie lange noch müssen NGOs, Jurist:innen und Betroffene über diese Dramen sprechen, sie dokumentieren, bis die Sache so ernst genommen wird, wie es unser aller Gesetze verlangen?
Ich treffe hier auf der Insel permanent Menschen auf der Flucht, die diesbezüglich schlimmste, unvorstellbare Erlebnisse und Gewalterfahrungen hinter sich haben.
Frauen, Kinder, Männer, alte und kranke Menschen – Menschen wie Du und ich, mit Gefühlen, Visionen, auch sie weinen, haben Ängste, lieben ihre Kinder, ihre Familien.
Auch sie wollen sich ein Leben in Freiheit und Sicherheit erarbeiten.
Wie gedenken wir all jenen in der Zukunft zu begegnen?
Wie gedenken wir friedliches Zusammenleben gemeinsam erarbeiten zu können, wenn Europa ihnen bereits beim „Eintritt“ seine Höllenfratze gezeigt hat?
Wie gedenken wir diese Verbrechen zu rechtfertigen, geschweige denn zu sühnen?
Dringlichst fordern wir die Europäische Union, auch alle politisch Verantwortlichen der Mitgliedstaaten auf, sich endlich zu besinnen und dem internationalen und europäischen Recht entsprechend zu handeln.
Denn all die Verbrechen, die wir hier an den Außengrenzen Europas verüben, laden wir uns, uns allen als unverzeihliche Schuld auf.
Eine Schuld, die wir in Wahrheit niemals verantworten konnten und nie begleichen werden können.
Obwohl bereits so viel schreckliches Unrecht begangen wurde, wir geben die Hoffnung und unsere Arbeit für unser aller Rechte und für ein friedliches Zusammenleben nicht auf.
Denn würden wir das tun wäre die Menschlichkeit, dies wofür es sich zu leben lohnt, die Liebe in uns, bereits gestorben.
Doro Blancke
Um unsere Arbeit, sowohl die akute Hilfe für Geflüchtete vor Ort, erste Integrationsschritte und auch unsere aktivistische Arbeit weiter tun zu können, bitten wir Sie/Euch um Ihre/Eure Unterstützung.
Wir geben nicht auf, solange Ihr es möglich macht – Herzlichen Dank.
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