Als ich den „Namenlosen Friedhof“, wie wir ihn nennen, das erste mal sah, es fühlte sich an, als würde ich in 1000 Stücke zersplittern.
Ein Stück Land, weit außerhalb der Stadt.
Verwandte, Freund:innen der wenigen Toten die benannt sind, können nicht hier her spazieren, ihre Liebsten zu besuchen. Sie brauchen jemanden mit einem Auto, der sie herbringt. Diesen „Jemand“ auf Lesbos zu finden ist wie ein Gewinn in einem Glücksspiel.
Weit weg vom Geschehen liegt der Friedhof, dieser Schmerz soll nicht in den Alltag eindringen.
Ertrunken, auf der gefährlichen Überfahrt Türkei-Griechenland, sofort geborgen, oder erst Monate später von einem Fischer entdeckt, oder angeschwemmt an einem der Strände, der leblose Körper rasch entfernt, er könnte den Alltag stören.
Oder verstorben, oft wegen extrem schlechter medizinischer Versorgung, so wie jene Mutter, die mit ihrem erwachsenen Sohn und ihren 3 minderjährigen Kindern auf Lesbos war.
Sie klagte über furchtbare Schmerzen, im Kopfbereich. Wie so oft bei Menschen auf der Flucht, wurde sie im Krankenhaus mit Schmerztabletten „versorgt“ und sofort wieder in die Unterkunft entlassen.
Am nächsten Tag war sie tot, ihre Kinder fanden sie.
Auch sie liegt auf diesem Friedhof, die Familie hat sich um eine Grabeinfassung gekümmert, ihr Bild ist am Grabstein zu sehen. Wenigstens sie sollte Frieden finden, wenn er den Kindern schon genommen wurde.
Ein Grab eines wenige Monate alten Babies, auch hier zurückgelassen – was bleibt anderes über?
Der Schmerz der Eltern, man kann ihn nicht in Worte fassen.
So liegen sie hier, die Toten – auf einem Großteil der Gräber steht „No Name“ und eine Nummer.
Wenigstens eine Nummer hat man ihnen gegeben.
Und wenn ich hier her komme, zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten, dann schleichen sich unweigerlich Gedanken in meinen Kopf: „Haben sie es jetzt besser?“
Denn wir alle kennen die Grausamkeit und die maßlose Entwürdigung der europäischen Abschreckungspolitik.
Wie muss es sich anfühlen für ein Baby, ein Kleinkind – wir alle wissen wie sensibel Kinder sind – wenn du, gemeinsam mit deinen Eltern, nirgendwo willkommen bist?
Wenn deine Mama keine Milch mehr hat, wegen Mangelernährung und sie die Milch im Fläschchen so verdünnen muss, dass das Wasser dich ernähren soll, weil sie für 1 Woche nur 1 Liter besorgen konnte.
Jetzt liegt dein Körper ruhig im Olivenhain, zwischen 100erten „No Name“, in Ruhe, umgeben von Vogelgesang, Rauschen des Windes, weit weg vom Leben.
Sie alle, weit weg.
Niemals kann man bei „No Name“ die Liebsten zuhause informieren. Sie warten so lange, bis auch sie in Erde gebettet werden. Kein Brief, kein Anruf. „No Name“ und die ganze Familie dazu.
Dieses Jahr hat sich eine NGO, gemeinsam mit dem deutschen Arzt Gerhard Trabert dazu entschlossen, den Friedhof zu renovieren.
Jedes Grab wurde eingefasst, aus jämmerlich überwucherten Erdhügeln entstanden Gräber.
So geht Würde schenken, den Toten und Europa – wir alle weinten bei der feierlichen Einweihung.
Ich stand da und jedesmal wieder, wünsche mir so dringlichst, könnte ich doch Briefe und Besuchsticket verschicken – ich weiß nicht wohin? Nach Afghanistan, in den Jemen, Sudan, Somalia, Syrien.
Briefe mit Namen.
So waren wir da, die geladenen Gäste. Griech:innen, Menschen aus Deutschland, Österreich, Italien, England, Afghanistan, Syrien.
Wir alle haben Namen, nur die Toten, vom namenlosen Friedhof – die nicht.
Wenn ihr eure Liebsten trefft, wer immer das auch sein mag, Familie, Partner:innen, Freund:innen, schaut ihnen ins Gesicht und sagt ihren Namen. Uns sehen zu können, wissen wo und wer wir sind, betrachten wir es als ein Privileg. Und leben wir danach.
Von Herzen wünsch ich uns einen Tag der uns bewusst macht, welch Geschenk es ist im Frieden und Wohlstand geboren zu sein. Und dass dieses Bewusstsein uns stärkt für die Würde und Rechte aller Menschen einzustehen.
Doro